Kann Risikokommunikation eine Informierte Entscheidung auch verhindern?

Eine gewagte Frage – zugegeben, zumindest, wenn sie auf einem Kongress des Deutschen Netzwerks für evidenzbasierte Medizin gestellt wird. Entscheidungshilfen gelten in den Reihen der EBM-Vertreter als das Non plus Ultra der „Patienteninformation“. Hart wurde dafür gerungen, vor allem auch auf gesundheitspolitischer Ebene. Für Krebsfrüherkennungsprogramme gehen die Entscheidungshilfen nun an den Start. Sie haben eine hohe Reichweite. Allein die evidenzbasierte Informationsbroschüre zum Mammographie-Screening-Programm wird jährlich an mehr als 5 Millionen Frauen in Deutschland versendet.

Vor diesem Hintergrund darf der Gedanke, den Corinna Schäfer vom ÄZQ (Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin) ins Auditorium des diesjährigen EbM-Kongresses gab, zumindest überrascht haben. In ihrem Vortrag stellte sie die Frage, ob Risikokommunikation eine Informierte Entscheidung auch verhindern könne?

Derzeit sei unklar, ob die Kommunikation von Nutzen und Schaden von Interventionen nach denselben Regeln in jedem Fall zu einer informierten Entscheidung führe, oder ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen es dadurch auch zu einer verzerrten Wahrnehmung des Schaden-Nutzen Verhältnisses kommen kann. Aussagekräftige Studien, die Interventionen zur Risikokommunikation bei Nutzen versus Schaden direkt verglichen haben, liegen nicht vor. Daher sei sich dieser Fragestellung derzeit nur auf der Basis von Hypothesenbildung zu nähern.

Patienten wie Ärzte würden dazu neigen, den Nutzen von Interventionen zu überschätzen. Dies sei in hochwertigen Studien belegt. Hier könne die Kommunikation von absoluten Risiken eine Enttäuschung hervorrufen, vor deren Hintergrund auch relevanter Nutzen gegebenenfalls als „gering“, da unter den eigenen Erwartungen liegend, rezipiert werde.

Zudem sei aus der Spieltheorie bekannt, dass Menschen Handlungen primär danach ausrichten, Verlust/Schaden zu vermeiden, statt zusätzlichen Nutzen zu erreichen. Dies könnte theoretisch zu einer Überbewertung von Informationen über Schaden im Vergleich zu Informationen über Nutzen führen.

Kann also eine Risikokommunikation dazu führen, dass der Schaden überschätzt wird und sich Patienten womöglich gegen eine medizinische Maßnahme mit erwiesenem Nutzen entscheiden? Wird vielleicht der Nutzen unterschätzt?

Führt mehr Wissen auch zu einer „richtigen“ Nutzen-Schaden-Bewertung?

Ein Gedanke, über den es sich nachzudenken, lohnt. Ein genauerer Blick in die Nutzerbefragung zur Entscheidungshilfe zum Mammographie-Screening führt in das Fahrwasser von Schäfers aufgeworfener Fragestellung.

Ein Beispiel: das Wissen zu Brustkrebshäufigkeit. Vor dem Lesen der Entscheidungshilfe geben etwa 45 Prozent der befragten Frauen die richtige Antwort. Auch nach dem Lesen bleibt es bei diesem Wert. Doch nun steigt der Anteil der Frauen, die das Erkrankungsrisiko unterschätzen, um rund 23 Prozent (von 16 Prozent auf 39 Prozent). Auffällig ist, dass nach dem Lesen der Entscheidungshilfe mehr Frauen aktiv zur falschen Lösung (12 Prozent) als zur richtigen Lösung wechseln (3 Prozent).

Der Nutzen, nämlich durch das Mammographie-Screening vor dem Brustkrebstod bewahrt zu werden, wird von vielen Frauen bekanntermaßen stark überschätzt. Die Entscheidungshilfe führt in der Nutzerbefragung zu einem veränderten Wissensstand. Fast jede zweite Frau unter 50 Jahren wechselt von einer falschen zur richtigen Antwort, bei den über 50-Jährigen sind es noch 33 Prozent. Doch noch immer gibt jede Vierte unter 50 Jahren und jede Dritte über 50 Jahren eine falsche Antwort an.

Betrachtet man den veränderten Wissenstand zu Überdiagnosen, zeigen sich ebenfalls die Grenzen einer Wissensvermittlung. Zwar ist auch in diesem Bereich ein Wissenszuwachs zu verzeichnen, doch verstehen rund 50 Prozent der befragten Frauen auch nach dem Lesen der Entscheidungshilfe noch immer nicht das Konzept Überdiagnose. Sie interpretieren Überdiagnosen nach wie vor als „Fehldiagnosen“ oder falsch-positive Befunde. Doch wirkt sich „die Gefahr einer Überdiagnose“ am stärksten auf die Teilnahmebereitschaft von Frauen am Mammographie-Screening-Programm aus. Für 42 Prozent der unter 50-Jährigen sowie 33 Prozent der über 50-Jährigen sind Überdiagnosen ein Grund, der gegen die Teilnahme spricht.

Bei diesen Ergebnissen drängt sich die Frage auf, ob der Wissenszuwachs auch zu einer adäquaten Einschätzung des Nutzen-Schadenverhältnisses führt. Inwieweit befördern (enttäuschte) Erwartungshaltungen eine Unterschätzung des Nutzens oder vorgeprägte Handlungsorientierungen eine Überbewertung von Informationen zum Schaden? Welche Rolle spielen Präferenzen, also grundsätzliche Einstellungen beispielsweise zur Krebsfrüherkennung für die Bewertung von Nutzen und Schaden?

„We do not think risk, we feel it“

Mit der Thematik beschäftigte sich 2014 Lisa Rosenbaum in dem im N ENGL J Med veröffentlichten Artikel „Invisible Risks, Emotional Choices – Mammography and Medical Decision Making“. Sie ging der Frage nach, welche Faktoren bei einer Entscheidungsfindung z.B. für oder gegen eine Gesundheitsmaßnahme wie das Mammographie-Screening die ausschlaggebende Rolle spielen. Sie vertritt die These, dass dabei vor allem Gefühle (z.B. Ängste), gefestigte Voreinstellungen sowie persönliche Präferenzen im Vordergrund stehen und nicht etwa wissenschaftliche Erkenntnisse oder Statistiken.

Rosenbaum weist auf Forschungsergebnisse zur Risikowahrnehmung hin, nach denen sich Menschen von Intuition und Emotionen leiten lassen. Sie schätzen das persönliche Krankheitsrisiko nicht auf der Grundlage von Algorithmen oder Risikokalkulationen ab, sondern verstärkt auf der Basis von Emotionen. Die Autorin fast zusammen: „We do not think risk; we feel it.“ (S.1550).

Die Frage sei also: Wie kann man Frauen die Verantwortung übertragen, eine informierte Entscheidung zu treffen, wenn Gefühle (und nicht Zahlen, Statistiken usw.) eine solch gewichtige Rolle bei der Abwägung von Nutzen und Schaden sowie bei der Entscheidungsfindung spielen?

Versuche, gefestigte Ansichten durch aufklärerische Maßnahmen ändern zu wollen, scheitern nach Auffassung von Rosenbaum oft oder können sogar das Gegenteil auslösen. Beispielsweise zeige eine Untersuchung, dass die inhaltliche Aufklärung über Vor- und Nachteile des Mammographie-Screenings in den USA von den befragten Frauen als Versuch gewertet wurde, sie von der Früherkennungsmaßnahme abhalten zu wollen, damit ihre Krankenversicherung Geld sparen kann.

Brauchen Frauen (nur) eine Entscheidungshilfe zum Mammographie-Screening?

Frauen haben ein Recht darauf, über Vor- und Nachteile der Brustkrebsfrüherkennung informiert zu werden. Und es steht außer Frage, dass diese Information den Anforderungen an evidenzbasierter Gesundheitsinformation gerecht werden muss. Dafür hat das EbM-Netzwerk Pionierarbeit geleistet – angefangen von der Guten Praxis Gesundheitsinformation bis hin zur Leitlinie evidenzbasierte Gesundheitsinformation.

Merkblatt und Entscheidungshilfe zum Mammographie-Screening-Programm erfüllen die Kriterien der evidenzbasierten Gesundheitsinformation. Doch die Weiterentwicklung des Merkblatts hin zur Entscheidungshilfe hat auch gezeigt, dass trotz Einhalten aller Qualitätsanforderungen der Informationsvermittlung Grenzen gesetzt sind. Kommunikation ist eben ein (im besten Falle) lernendes System.

Es bleibt daher noch einiges zu tun. Die Wissenschaft wird sich weiter mit den genannten Fragestellungen auseinandersetzen – ein weites Feld! Und vielleicht bringen Initiativen wie Choosing Wisely, in Deutschland als „Gemeinsam klug entscheiden“ bekannt und unter dem Dach der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften laufend, frischen Wind in die Diskussion um die „richtige“ Risikokommunikation. Letztlich geht es dort nämlich um das Zuviel und das Zuwenig in der Versorgung.

 

Quellen:

Gefühlte Sicherheit – Kann Risikokommunikation eine informierte Entscheidung auch verhindern? | H. Müller, C. Schäfer, C. Weymayr | Klasse statt Masse – wider die wertlose Wissenschaft: 18. Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin, Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e. V., 09.03. – 11.03.2017, Hamburg | http://www.egms.de/static/de/meetings/ebm2017/17ebm027.shtml

Nutzertestung Entscheidungshilfe Mammographie | Ergebnisse der quantitativen Studie | P14-03 Abschlussbericht Einladungsschreiben und Entscheidungshilfe zum Mammographie Screening | IQWiG | 16.09.2016 | https://www.iqwig.de/download/P14-03_Abschlussbericht_Einladungsschreiben-und-Entscheidungshilfe-zum-Mammographie-Screening.pdf

Invisible Risks, Emotional Choices – Mammography and Medical Decision Making |Rosenbaum L | 2014: N ENGL J MED 371;16: 1549-52.

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